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Das ›neue‹ ELKG

Die lutherische Orthodoxie

In der Auseinandersetzung mit der Neuscholastik der röm.­-katholischen Gegenreformation bildet sich in der lutheri­schen Theologie eine ›Scholastik‹ heraus, die aufgrund ih­res Bemühens um die Erhaltung der ›reinen‹ lutherischen Lehre ›Orthodoxie‹ genannt wird.

Weitere Kennzeichen der lutherischen Orthodoxie sind einerseits ein Bemühen um die Einheit von Lehre und Leben, welches nicht zuletzt in einer Blüte der Kirchenlieddichtung bei Paul Gerhardt (1607–1676) und der Kirchenmusik bei Johann Sebastian Bach (1685–1750) seinen Ausdruck findet; andererseits die Wahrung der Selbstständigkeit der Kirche vor absolutisti­schen Machtansprüchen der Fürsten, welche in der Folge zu Gebietsverlusten an die reformierte Seite führt (u.a. Kur­pfalz 1566, Hessen-­Kassel 1605), die den politischen Zielen mancher evangelischer Fürsten dienlicher erscheint.

In den soziopolitischen und geistesgeschichtlichen Herausfor­derungen der deutschen Aufklärung (ca. 1750–1830) kommt die orthodoxe Theologie und Frömmigkeit dann zum Erlie­gen, bleibt aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die vor­herrschende geistige Macht im lutherischen Kirchentum.

Die lutherische Frühorthodoxie (ca. 1555–1600)

»In den Kämpfen um die reine Lehre trat nun angesichts der Bedrohung durch die Gegenreformation im Lied die Bitte um Erhaltung der Kirche in den Vordergrund.

Beharr­lich wurde das lutherische Liedgut in einer Reihe von ver­bindlichen, den jeweiligen Sonntagen zugeordneten, aus­wendig gesungenen Kernliedern gepflegt. Krieg, Pest und Hunger ließen die Kreuz­ und Trostlieder entstehen, in die die Sehnsucht nach einem seligen Sterben und dem lie­ben Jüngsten Tag einfloss. Mancherorts blühte eine von der mittelalterlichen Jesusmystik und der durch die Andachts­bücher von Moller und Arnd vermittelten Bildersprache des Hohenlieds beeinflusste innerliche, emotionsbetonte Gläu­bigkeit auf.

In der Praxis der Kirchenmusik gewann die homophone Liedbearbeitung mit der Melodie im Sopran an Bedeutung (Kantionalsatz). Immer häufiger veröffent­lichten namentlich genannte und bekannte Komponisten ihre Liedsammlungen.«

Die lutherische Hochorthodoxie (ca. 1600–1675)

»Das Lebensgefühl dieser Zeit war geprägt von den Schre­cken des Dreißigjährigen Krieges. Ganz Deutschland lag verwüstet, zwei Drittel der Bevölkerung waren ausgelöscht.

In Dichtung, Musik und bildender Kunst drückte sich eine spannungsvolle Polarität aus: Vergänglichkeit, Todesnähe, Weltflucht einerseits, Sinnenfreude, Lebensgenuss, Welt­sucht andererseits. Die persönlichen Anliegen des Ein­zelnen wurden nun verstärkt in das Liedgut einbezogen. Tageszeitenlieder und darin auch ein neues Verhältnis zur Natur, Klage­ und Vertrauenslieder und darin trotz schwe­rem Leid doch Lob und Dank, Festlieder mit dem Blick auf die Passion und dem Ausblick auf die himmlische Welt.

Die herausragenden Gedichte Gerhardts im Klanggewand von Crüger und Ebeling spiegeln das Ich im Wir der Gemein­de, die eigene Glaubenserfahrung im Horizont der Heilstat Gottes; eine seelsorgerlich tröstende und ermutigende Aus­richtung ist zu spüren.

Als stilbildend erwiesen sich die Regeln von Opitz: natür­liche Wortbetonung im Vers und reiner Endreim. Typisch für Barocklieder sind kunstvolle Vers­ und Strophenfor­men (Alexandriner, sapphische Strophe), blumige Titel und wortgewaltiger Überschwang zu allen Gelegenheiten des Lebens. Dichterbünde und Sprachgesellschaften veredelten die deutsche Sprache und schufen so die Grundlage für eine Blütezeit des Kirchenliedes.

Die Melodiegestaltung geriet unter den Einfluss der aus Italien übernommenen Oper. Eine Melodie empfand man mehr oder weniger als solistische Oberstimme (Monodie) über einem harmonisch­akkordischen Gefüge (Generalbass). Für den Kirchengesang wurde die Orgel das bevorzugte Be­gleitinstrument. Das Tonartensystem stützte sich nun auf Dur und Moll, nicht mehr auf die alten Kirchentonarten. In rhetorisch­sprechenden und malerisch­abbildenden Motiv­formeln suchte man eine engere Wort­Ton­Beziehung zu erreichen.«

Die lutherische Spätorthodoxie (ca. 1675–1780)

Schon der westfälische Friede von Münster und Osnabrück (1648) relativiert und beschränkt den Wahrheitsanspruch der Konfessionen dadurch, dass die Reformierten als zu­gehörig zum Augsburger Bekenntnis angesehen werden. Philosophie und Jurisprudenz emanzipieren sich zusehends von der Vormachtstellung der Theologie, so dass die Theo­logie ihre gesellschaftsübergreifende und universitäre Deu­tungshoheit verliert.

Die Lehre der lutherischen Orthodoxie ist nicht mehr, wie bisher in lutherischen Gebieten, ge­sellschaftliche Norm, sondern eine theologische Richtung neben anderen.

> Die reformierte Orthodoxie